Kulturelle Aneignung und Kulturalisierung

Kultur-Kategorien

Manchmal werden Menschen aufgrund ihres Herkunftslandes/ihrer Herkunftsregion, der ihrer Eltern oder anderer Verwandter einer bestimmten Kultur zugeordnet. Wenn diese vermeintliche „Kultur“ oder Kulturkategorie mit einem Land oder einer Region gleichgesetzt wird, wie es oftmals geschieht, wird damit weder die kulturelle und soziale Vielfalt oder die Heterogenität eines jeden Landes berücksichtigt noch der Umstand, dass sich „Kulturen“ immer gegenseitig beeinflussen.

Was zu einer bestimmten Kultur gehört und nicht, ist häufig auch unter jenen Menschen umstritten, die sich mit dieser identifizieren. Hinzu kommt, dass Menschen nicht nur von der kulturellen, politischen und sozialen Vielfalt ihres Wohnorts oder ihrer familiären Herkunft geprägt sind, sondern auch durch die kulturellen, politischen und medialen Einflüsse der kolonisierten und globalisierten Welt.

Entsprechend der individuellen Rahmenbedingungen, unter denen wir aufgewachsen sind (dazu gehören auch die eigene Persönlichkeit und die Menschen in unserem Umfeld), übernehmen wir das, was uns hilft, in unserem Umfeld klar zu kommen. Manchmal läuft das bewusst ab, manchmal unbewusst. Daraus ergibt sich, dass Menschen nicht wirklich einer Kultur zugeordnet werden können. Vielmehr erleben wir alle eine Vielfalt von „transkulturellen“ Einflüssen.

Das bedeutet nicht, dass es keine kulturellen Unterschiede gibt, oder dass einzelne Menschen sich nicht mit kulturellen Elementen identifizieren. Es ist aber unmöglich als Einzelperson (ob sich einer Kulturkategorie zugehörig empfindend oder außenstehend) den Inhalt einer bestimmten Kultur wirklich zu bestimmen. Gleichzeitig wissen nur die einzelnen Menschen selbst, wie und wieso sie sich bestimmte Kulturen nah fühlen und anderen nicht.

Kulturalisierung

Die Verbindung von einzelnen Menschen mit einer bestimmten Kultur ist nicht nur inhaltlich falsch (siehe „Kultur-Kategorien“). Sie bringt auch gesellschaftliche Konsequenzen mit sich. Häufig werden Menschen nicht nur als Repräsentant:innen ihres Herkunftsortes oder dem ihrer Vorfahren kategorisiert. Auch unabhängig von Wissen über „Herkunft“ werden sich häufig kultureller Merkmale wie Namen, der Aussprache oder der Kleidung – oder nicht-kultureller Merkmale wie physischen Eigenschaften –, als unbenannte Hinweise bedient, um Menschen bestimmten Kultur-Kategorien zuzuordnen. In diesem Fall werden diese kulturellen Kategorien (einschließlich der Religion) zusammen mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen und Fähigkeiten in Verbindung gebracht, z. B. Temperament, Tanzfähigkeiten oder Fleiß. Demzufolge werden die kulturellen Merkmale ähnlich dem alten Rassismusverständnis auch als unveränderbare, quasi-biologische Merkmale behandelt, die eine Gruppe von einer anderen Gruppe unterscheiden sollen. Auf dieser Art und Weise wird „Kultur“ als „politisch korrekterer“ Ersatzbegriff für „Rasse“ verwendet. Das verschleiert oder verharmlost den rassistischen Inhalt solcher Handlungen oder Aussagen (auch für die Menschen, die diese z. T. unbewusst ausüben), aber die Folgen für die Betroffenen sind dieselben wie bei rassistischer Diskriminierung. Diese rassistisch geprägte Betrachtung von Kultur nennt man „Kulturalisierung“.

Kulturelle Aneignung

Es gibt immer mehr Menschen, die sich Gedanken zu dem Thema „kulturelle Aneignung“ machen, d. h. zu der Nutzung der Kulturgüter von Gruppen, die nicht die „eigenen“ sind. An sich sind Kulturen immer eine dynamische und umkämpfte An- und Versammlung von vielfältigen kulturellen Errungenschaften, Traditionen und religiösen Bräuchen (siehe „Kultur-Kategorien“). Das heißt, „kulturelle Aneignung“ findet und fand immer statt, auch unbewusst. Hier aber geht es um die bewusste Nutzung von Kulturgütern, die ganz offensichtlich nicht aus der Kultur stammen, in der man aufgewachsen ist – und dies oft aus persönlichem Gewinn an Ansehen oder Geld (z. B. wenn eine Weiße deutsche Person Rap-Musik macht, thailändisches Essen verkauft, Henna-Tätowierungen oder Dreadlocks trägt, um „cool“ auszusehen).

Der Kritik diesbezüglich ist sehr vielfältig, die öffentliche Diskussion dazu sehr kontrovers und viele wichtige Perspektiven werden hierbei sichtbar gemacht. Ein gemeinsamer Kritikpunkt, der viele Befürworter:innen eines kritischen Umgangs mit „kultureller Aneignung“ verbindet, ist die Tatsache, dass diese Kulturgüter häufig auf eine Art und Weise genutzt werden, die gegenüber Menschen, die mit diesem Kulturkreis verbunden sind, oder die denjenigen, die sie entwickelt haben, keine oder nur wenig Anerkennung zuteil werden lässt (z. B. Aufführung von Hip-Hop-Musik, ohne etwas über den Ursprung der Musik zu wissen und/oder diskriminierend gegenüber Schwarzen Menschen).

Noch ein Kritikpunkt ist die ökonomische Verdrängung von Menschen dieser Gruppe, z. B. dass auch wenn ein:e Weiße:r Schauspieler:in eine Schwarze Figur in einem Theaterstück mit Ernsthaftigkeit und Würde spielt (mit dementsprechender Schminke, d. h. mittels „Blackfacing“), damit trotzdem auf Schwarze Schauspieler:innen verzichtet wird. Dies führt zu unguten Gefühlen und de facto einer weiteren Verdrängung von Schwarzen Schauspieler:innen, die ohnehin viel seltener als ihre Weißen Kolleg:innen für Theaterstücke engagiert werden. Es gibt auch viele Beispiele, bei denen bestimmte Kulturgüter, z. B. Soul Music, erst dann breite Popularität erlangen und Profit bringen, wenn eine Weiße Person sie verwendet.

Die Umkehrseite der Kritik ist ein Appell: Hier geht es im weiteren Sinne um eine respektvolle und nicht diskriminierende Wertschätzung von kulturellen Gütern anderer Kulturen, sowie der Menschen, die sie als erstes geschaffen bzw. maßgeblich an ihrer Entstehung beteiligt waren. Und für die Bedingungen, unter denen sie diese Errungenschaften selbst benutzen dürfen. Das, was einigen einfach nur wie Mode (Rasta-Locken) oder Sport (Yoga) vorkommt, wird nicht in einem politischen Vakuum verwendet, sondern in einer manchmal politisch schwierigen Konstellation, bei der die Nutzung dieser Kulturgüter durch die Menschen selbst unterdrückt oder verunmöglicht wird. Respekt heißt hier, diese Bedingungen zu berücksichtigen, wenn man selbst entscheidet, ob und wie man solche Kulturgüter konsumiert. Respekt heißt auch: gegen die (wirtschaftliche oder arbeitsmarktpolitische) Diskriminierung dieser Menschen zu agieren.

Ein paar aktuelle Links dazu: